Die Betriebszeitung „Unsere Werft“
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Zwischen Information und Propaganda
(von Dorina Kasten)
Dorina Kasten ist Museologin im Stralsund Museum.
Dieser Artikel erschien zuerst in den Stralsunder Heften im September 2024.
Quo vadis, Volkswerft? Das fragte in einem Beitrag für das Magazin Welt-Kultur-Erbe 2023 der Direktor des Stralsunder Stadtarchivs, Dr. Dirk Schleinert. Damit bezog er sich auf die neuesten Entwicklungen der ehemaligen Volkswerft, die von der Hansestadt Stralsund zu einem Maritimen Gewerbe- und Industriepark umgestaltet wird. Noch immer werden Pächter gesucht, obwohl man auf einem guten Weg ist. An das, was den Menschen unserer Region die Volkswerft einst bedeutet hat, wird aber wohl nie mehr angeknüpft werden können. Ik bün bi de Werft, das klang jahrzehntelang stolz.
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Stralsund hat eine lange Schiffbautradition mit Werften in der Frankenvorstadt. Dort übernahm die Ingenieur-Bau GmbH 1945 das Gelände der ehemaligen Kröger-Werft, nachdem die Eigentümer in den Westen geflohen waren. Der Aufbau eines neuen Schiffbaubetriebes folgte dem Befehl der Sowjetischen Besatzungsmacht vom 7. Juni 1948. Ziel war es, eine Fischereiflotte aufzubauen, den Hunger zu besiegen, den Reparationsleistungen an die Sowjetunion nachzukommen und den Menschen der Region Arbeit zu geben. Die inzwischen landeseigene Werft „Ingenieur Bau“ bekam den Auftrag, 100 Fischereifahrzeuge (Logger) zu fertigen. Am 15. Juni 1948 benannte die Belegschaft ihren Betrieb in „Volkswerft“ um. Der Befehl beinhaltete auch, Werkzeug zu beschaffen, für Wohnungen und für warmes Essen zu sorgen.
In den folgenden Jahrzehnten wuchs die Volkswerft zu einem Großbetrieb heran. Auf dem Betriebsgelände entstand eine kleine „Stadt in der Stadt“ mit Fachkräfteausbildung, Poliklinik, Verkaufsstellen, Nähstube, Sparkassenfiliale und Bibliothek. Zur Werft gehörten außerdem ein Kino auf dem Dänholm, mehr als 20 verschiedene Sportgruppen, ein Seglerhafen und das Kulturhaus "Ernst Thälmann". Meilensteine waren die Projektierung und Produktion moderner Fischfang- und Verarbeitungsschiffe. Gut ausgebildete Beschäftigte entwickelten die Volkswerft zum größten Exportbetrieb der DDR. 1975 gelang der Sprung an die Weltspitze: Die Volkswerft wurde vom Londoner Lloyd als Nummer Eins in der Welt beim Bau von Fischereischiffen geführt. Bei dieser Einordnung geht es um das Bauvolumen und die Kapazität einer Werft.
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Seit 1948 begleitete die Zeitung „Unsere Werft“ die tagtäglichen Geschehnisse im Betrieb. Manchmal kam sie unregelmäßig, meist jedoch wöchentlich zu den Leserinnen und Lesern. Anfangs kostete sie 10 Pfennige, ab 1.2.1952 bis zu ihrer Einstellung 5 Pfennige. Auch das Koggen-Logo fand sofort seinen Platz auf der Titelseite, wurde in den 1950er Jahren durch eine Abbildung des ersten Loggers ersetzt, seit 1963 aber wieder abgedruckt.
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​Für die Erforschung der Geschichte der Volkswerft ist die Zeitung eine großartige Quelle. Am 5. 11.1948 erschien sie erstmals als Organ der SED-Betriebsgruppe und der Bau-Union. Der Kreisvorstand Stralsund der SED schickte ein Glückwunschtelegramm. Waldemar Verner, damals 1. Sekretär, schrieb: „Eure Zeitung soll Sprachrohr der Werktätigen, soll Freund, Helfer und Organisator sein.“ Und das war sie zunächst auch. Wenn man, besonders seit Mitte der 1970er Jahre die Partei-Propaganda ignoriert, kommen viele Zeitzeugen zu Wort und die Produktion und deren Probleme wurden unbeschönigt beschrieben.
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Besonders in den Ausgaben der ersten drei Jahrzehnte, auf die hier näher eingegangen werden soll, spürt man eine Aufbruchsstimmung der Menschen, die mitreißend ist. So heißt es in der Nr. 27 vom 30.7.1949: „Wir müssen aus dem Dreck herauskommen und dazu muss jeder einzelne auf seinem Gebiet das Beste leisten.“ Wie überall in der DDR fehlte es quasi an allem: An Fachkräften, Material, Wohnungen, Lebensmitteln.
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Und dennoch lief am 1.11.1949 der erste Logger vom Stapel. Vermutlich wurde damals der Grundstein für das noch heute beschworene und vielfach beschriebene Zusammengehörigkeitsgefühl der Belegschaft gelegt. Man hatte in schweren Zeiten gemeinsam etwas geschaffen. Alle Gewerke hatten zusammengearbeitet, nun sah man das Schiff schwimmen und war stolz. Das gab Schwung für die nächsten Bauten, die Schlag auf Schlag folgten.
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Die Werft-Zeitung wurde aber auch Sprachrohr der Kritiker*innen, die Überstunden und Sonntagsarbeit für das Logger-Programm beklagen. Meistens war Kritik von Verbesserungsvorschlägen begleitet. Mithilfe der Comic-Figur Korl Weitwat, die 1956 erstmals erschien und mit Latzhose, Hammer und Hut ausgestattet war, legte die Redaktion der Zeitung den Finger in die Wunde, mal zynisch, mal augenzwinkernd griff sie Unsitten und Missstände auf. Und davon gab es nicht wenige. Diebstahl von Material, Fahrrädern und Arbeitskleidung waren an der Tagesordnung. Auch Alkoholdelikte zogen sich wohl durch die gesamte Werftgeschichte. Ganz profane Dinge wurden vonseiten der Belegschaft angesprochen. So beklagte in der Ausgabe Nr. 26 vom 22.7.1949 ein Werkpolizist, dass in den Arbeiterunterkünften auf dem Dänholm keine Uhr existiere und die Mitarbeitenden deshalb zu spät oder zu früh zur Schicht kommen würden. 1953 verlangte ein Kollege aus der Zimmerei, dass das Verbot, helles Bier in der Kantine zu verkaufen, sofort aufgehoben werden solle, damit jeder, der mal Appetit auf eine Flasche Bier habe, sich eine holen könne. Von drei bis vier Flaschen Bier könne man sich schließlich nicht betrinken. „Oder sollen wir uns diese auch schon morgens mitbringen“, fragte er süffisant. Leider ist nicht bekannt, ob die Forderung erfüllt wurde, vermutlich jedoch nicht.
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Berichte über den Volksaufstand vom 17. Juni 1953 fanden in der Werft-Zeitung keinen großen Niederschlag. Am 18. Juni hatte es auch auf der Volkswerft einen Streik gegeben, der durch den Aufzug von Schützenpanzerwagen im Keim erstickt und schnell beendet worden war. Etwa 1000 Belegschaftsmitglieder der Nachtschicht hatten die Arbeit niedergelegt. Wie auch in anderen Großbetrieben wurden jedoch im Anschluss die unrealistischen Planvorgaben zurückgenommen. Ein weiteres Ergebnis der Streiks war die Gründung der Kampfgruppen, die Ende des Jahres 1953 bereits 60 Mitglieder auf der Volkswerft zählten. Die Schlagworte „Planvorgaben“ und „Wettbewerb“ bestimmten die ganze DDR-Zeit über das Arbeitsleben. Sie finden sich natürlich auch massiv auf den Seiten der Werft-Zeitung. Alljährlich wurden die Pläne zum Erreichen der Produktionsziele vorgestellt, diskutiert, festgelegt, die Gewerke traten in einen Wettbewerb, die Pläne wurden erfüllt oder übererfüllt, die besten Belegschaftsmitglieder ausgezeichnet. 1963 startete auf der Werft eine große Neuerer-Initiative.
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In der Ausgabe vom 19.1. sprach der Direktor Heinz Homburg direkt Verantwortliche an, die die Erfüllung ihrer Aufgaben schleifen ließen. Foto und Name der Kollegen wurden veröffentlicht und sie wurden zur Stellungnahme aufgefordert, speziell zu Problemen in der Verzinkerei. Im März berichtete die Zeitung dann über disziplinarische Maßnahmen. Es wurden kritische und selbstkritische Beiträge von Abteilungsleitern abgedruckt. Der Werftdirektor ging aber auch gegen Mobbing vor und forderte, üble Nachrede und substanzlose Kritik innerhalb der Belegschaft zu unterlassen. Das ist wohl der Grund dafür, dass noch bis in das Jahr 1965 „Ehrenerklärungen“ in der Werftzeitung abgedruckt wurden, in denen jemand sein Bedauern äußerte, den Kollegen oder die Kollegin beleidigt zu haben.
Aber auch die Werftleitung wurde in die Pflicht genommen. „Wir fordern von der Betriebsleitung für das neue Jahr, daß wir eine klare Planaufschlüsselung bekommen und daß gleich am Anfang des Jahres mehr Augenmerk auf die Einhaltung der Termine gelegt wird.“ So berichtete das Blatt in der Ausgabe vom 5.1.1963 in einem Diskussionsbeitrag von Egon Nebel, Abteilung Konservierung, auf der Gesamtmitgliederversammlung der SED. Außerdem wurde über einen sonntäglichen Sondereinsatz zur Fertigstellung eines Schiffes berichtet, bei dem Volkspolizisten und die Kampfgruppen helfen mussten. Appelliert wurde an Ehrlichkeit, Mitdenken und korrekten Umgang mit den Produktionsmitteln.
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In der Ausgabe vom 19.1. wurde ausführlich der Betriebskollektivvertrag 1963 vorgestellt, unter dem Slogan: „Gründlich denken, ehrlich arbeiten, wirtschaftlich rechnen, wissenschaftlich forschen, froh und kulturvoll leben!“ Die Festlegungen betrafen u.a. Qualifizierungsmaßnahmen (Fach- und Hochschulkaderanteil erhöhen), Maßnahmen zur Verbesserung des Gesundheits- und Arbeitsschutzes, der Arbeiterversorgung und des Arbeiterwohnungswesens. Konkrete Forderungen zum Lärmschutz des Chefarztes der Poliklinik sollten umgesetzt und außerdem 185 000 DM zur Beschaffung von Milch für Kolleginnen und Kollegen, die gesundheitsgefährdende Arbeiten ausführten, bereitgestellt werden.
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Besonderes Augenmerk galt dem weiblichen Teil der Belegschaft. 1963 betrug er 19,2%. „Um unsere Frauen mit der neuesten Mode vertraut zu machen, sind in Verbindung mit dem Frauenausschuß, der HO Industriewaren und dem Konsum Modenschauen durchzuführen. Verantwortlich: Abteilung Lohn und soziale Fragen und Frauenausschuß.“ Neben Kreuzworträtsel, dem Speiseplan der Kantine, Beiträgen zur Stadtgeschichte oder Ausstellungsbesprechungen im Kulturhistorischen Museum wurden auf der letzten Seite der Werftzeitung in fast allen Jahrgängen regelmäßig Mode-Tipps abgedruckt.
Jedoch gab es auch ernsthafte Ziele, die Frauen zu stärken. Das geht aus dem am 14.12.63 veröffentlichten Frauenförderungsplan für 1964 hervor: „Frauen und Mädchen, die bereits im Betrieb beschäftigt sind bzw. neu eingestellt werden und nicht das Ziel der 8. Klasse erreicht haben, sind für die Teilnahme an einem Qualifizierungslehrgang zum Erreichen des Abschlußzeugnisses der 8., 10. und 12. Klasse zu gewinnen. […] Die Besetzung von leitenden und mittleren Funktionen durch Frauen und Mädchen ist planmäßig auf der Grundlage des Kaderentwicklungsplanes durchzuführen. Die Vorschläge des Frauenausschusses sind zu berücksichtigen und die notwendigen Qualifizierungsmaßnahmen einzuleiten.“ Frauen in gehobenen Führungsebenen blieben die Ausnahme und auch eine Werftdirektorin wäre wohl damals nicht möglich gewesen. Jedoch wurden die Kräne fast ausschließlich von Frauen bedient.
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1963 erschien erstmals die Karikatur „Wattfraß“. Mit ihrer Hilfe wurde dazu aufgerufen, Energie zu sparen und nicht benutzte Elektrogeräte vom Netz zu nehmen. „Duldet Wattfraß nicht im Betrieb und zu Hause!“, hieß es. 1963 war auch das Jahr, in dem in den Haushalten der Werftangehörigen zunehmend der Fernseher eine Rolle spielte. „Unsere Werft“ räumte sowohl der Gewerkschaftsbibliothek als auch dem Stadttheater Platz für Werbung ein, um dem „Nur-in-die-Röhre-gucken“ und der „Fernsehkrankheit“ entgegenzuwirken.
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Interessant auch der Jahrgang 1965: Der Begriff Patenbrigade taucht erstmals auf. Patenschaften spielten eine große Rolle im Arbeitsleben der DDR. Werftbrigaden waren beispielsweise mit LPG-Brigaden freundschaftlich verbunden und halfen sich gegenseitig. So berichtete die Zeitung am 28.8.1963 darüber, dass der Bereich Reparatur mit 45 Kollegen nach Feierabend Hafer in Rönkendorf aufgestellt habe und die Lehrlinge der Betriebsberufsschule die LPG Niepars beim Rübenhacken unterstützt habe. Das Jahr 1965 stand im Zeichen der Kommunalwahlen. Unter der Rubrik „Arbeiter fragen“ ging man am 25.9. darauf ein, warum es keine Oppositionsliste zur Wahl gab. „Weil es in der DDR keine Klassengegensätze gibt, Arbeiter, Bauern und alle Werktätigen sind freundschaftlich verbunden“, lautete die Antwort. In einer weiteren neuen Rubrik „Mit spitzer Feder“ – die aber später wieder eingestellt oder von einer anderen abgelöst wurde – ging es am 2.10. um Kritik an der schlechten Abstimmung der Arbeitsabläufe der Gewerke untereinander. Da habe wohl „Otto Murks“ seine Hand im Spiel, wurde geunkt. „Die Schweißer waren noch nicht fertig, da kamen schon die Spritzer.“
Am 13.11. wurde der Berufs-Omnibus-Verkehr wegen der überfüllten Busse stark kritisiert. „Wie lange will die Werftleitung noch zusehen? Leute kommen zu spät.“
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Im Jahrgang 1968 der Zeitung „Unsere Werft“ steht eine breite und oft auch konstruktive Kritik im Fokus. Schon am 5. Januar forderte der Werftdirektor in der Diskussion zum Betriebskollektivvertrag 1969: „Schluss mit der Mittelmäßigkeit!“ und: „Wir sind noch ein unzuverlässiger Partner!“ Massive Kritik äußerte er an der Qualität, Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit. Schiffe in Serie von 100 Stück fertigzustellen blieb jedoch einmalig. Beim Typ Atlantik betrug die Stützung durch den Staatshaushalt allerdings 40%. Auch in der Ausgabe vom 12.1.1968 äußerte der Werftdirektor harte Kritik an der Leitungstätigkeit des stellvertretenden Produktionsdirektors, weil das Schiff „Atlantik 7126“ nicht fertig zum Abnahmefahrttermin wurde.
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Aber es gab auch Positives zu berichten. Anlässlich des Internationalen Frauentags am 8. März wurde festgestellt, dass sich aktuell 200 Kolleginnen in der Qualifizierung befänden, und das neben der Arbeit! Sie absolvierten Facharbeiter- und Spezialisierungslehrgänge. Im Juni wurde eine breit angelegte Diskussion über den Stand der Qualität der Produktion geführt. „Der Ruf der Werftarbeit ist in Gefahr“, hieß es. Und es wurden bessere Arbeitsabläufe und eine Stellungnahme der Leitung gefordert.
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Dauerthema war auch das Werkküchenessen, dessen Speiseplan immer in der Werft-Zeitung abgedruckt wurde. Am 22.3.1968 wurden Nachtisch und Soße eingefordert und moniert, dass das Essen auf tiefen Tellern serviert wurde. Am 26.4.1968 durfte der Aufmarschplan der Belegschaft zur Maidemonstration nicht fehlen und als Einstimmung war das alte Lied der Arbeiterbewegung „Wann wir schreiten Seit an Seit“ abgedruckt.
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In der Ausgabe vom 9.8. ging die Redaktion auf das Wohnungsbauprogramm ein und stellte fest: „Jeder dritte Stralsunder wird in Knieper-West wohnen!“. Der 1. Preis für die Gestaltung des neuen Wohngebietes war an das Architektenkollektiv des Wohnungsbaukombinats gegangen. Die Zeitung vom 27.9. beschäftigte sich noch einmal mit der Verschwendung von Produktionsmitteln auf der Werft. Eine Million Mark seien zum Fenster rausgeschmissen worden. Als Beispiele wurden folgende aufgeführt: Deckenverschlüsse mit der Brechstange geöffnet, beim Transportieren Armaturen zertrümmert, Kabel gequetscht und Gewinde zerstört, beim Schweißen Kabel verbrannt, Bullaugen beschädigt. Die Liste war lang. Außerdem: „Ein Schiff hat die Werft verlassen, Reste bleiben zurück. Unrat auf dem Standprobenplatz!“ Das Ganze war illustriert mit einem Foto.
Seit den Ausgaben der 1970er Jahre fällt auf, dass Kritik nicht mehr so freimütig geäußert wurde. Jahrgang 1973 beginnt mit einer Serie von geschichtlichen Rückblicken zum Aufbau der Werft, immerhin nahte der 25. Geburtstag. Immer mehr propagandistische Schlagzeilen fliossen in die Beiträge ein. Die Zeitung schien ihren unverwechselbaren Charakter zu verlieren, blieb aber dennoch die Hauptinformationsquelle für die Werftarbeiterinnen und Werftarbeiter.
Am 9. März 1979 erschien anlässlich des Internationalen Frauentags ein Bericht über das Kollektiv der 75 Kranfahrerinnen, die alle aus artfremden Berufen kamen. Die jüngste war 19 Jahre alt, die ältesten schon über das Rentenalter hinaus. Die Interviewten hoben ihre Solidarität untereinander hervor. Wenn ein Kind krank war, sprangen andere Kolleginnen ein. In dem ihnen gewidmeten Beitrag beklagten sie die fehlenden Duschen und die geringe Anzahl von Waschbecken in Halle 1.
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Am 28. April 1995 erschien die Werft-Zeitung zum letzten Mal. Schon seit Beginn der 1990er Jahre hatte die Zeitung ein neues Format bekommen, und der Umbruch war auch inhaltlich zu spüren. Werbeanzeigen von Versicherungsgesellschaften wie Schwäbisch Hall, Aktfotos, Warnungen vor Kredithaien bei Autokäufen oder Berichte über eine bevorstehende Misswahl machten die Zeitung verwechselbar und beliebig. Das kumpelhafte Du verschwand aus den Beiträgen. Ironie der Geschichte: Am 29.11.1990 erschien ein Spendenaufruf „Hilfe für die Sowjetunion“ für Nahrungsmittel und Medikamente.
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​Für die Volkswerft waren bereits 1990 harte Zeiten angebrochen. Mit der Wende und der friedlichen Revolution in der DDR brach der Absatzmarkt in Osteuropa ein. Die Sowjetunion als größter Auftraggeber war plötzlich zahlungsunfähig. Nach der Umwandlung der Volkswerft in eine GmbH gehörte sie als Tochter der Deutschen Maschinen- und Schiffbau AG der Treuhandanstalt. Alle sozialen Einrichtungen der Werft wurden abgewickelt oder privatisiert. In den folgenden Jahren wechselten häufig die Eigentumsverhältnisse. Massenentlassungen, Fördermittelskandal, Transfergesellschaften und zeitweise volle Auftragsbücher prägten diese Zeit. Die EU griff marktregulierend ein und gab die Schiffsneubau-Quote vor.
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1997 nahm die Belegschaft die bis dahin größte Schiffbauhalle der Welt in Betrieb. Die Werft spezialisierte sich auf den Bau von Container- und Versorgungsschiffen, stellte aber auch Teile für Windkraftanlagen und Kreuzfahrtschiffe her. 2016 keimte neue Hoffnung auf, den Werftstandort Stralsund zu erhalten. Das Tourismusunternehmen Genting Hong Kong kaufte die Volkswerft und gründete die MV Werften. 2018 begann die Produktion des Kreuzfahrtschiffes Crystal Endeavor. 300 Beschäftigte stellten die Megayacht 2021 fertig, auch mihilfe eines Kredites der Bundesregierung. Dennoch beantragte Genting Hong Kong Insolvenz und läutete das Ende der Volkswerft als Schiffbaubetrieb ein. Das Personal wechselte in eine Transfergesellschaft. 2022 kaufte die Hansestadt Stralsund das Werftgelände, um einen Maritimen Industrie- und Gewerbepark zu betreiben.
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Die Leistungen tausender Belegschaftsmitglieder zeugen von der langen Tradition des Fischereischiffbaus am Strelasund. Nach dem Krieg waren die Frauen und Männer mit Hunger und schlechten Arbeitsbedingungen konfrontiert, in der DDR-Zeit mit Materialmangel und Misswirtschaft. Nach der Privatisierung kämpften sie gegen Entlassungen, Fördermittelbetrug und Lohnverzicht. Ihre ausgezeichnete Arbeit seit 75 Jahren steht außer Frage. Mit der Gründung des Maritimen Industrie- und Gewerbeparks schlug die Hansestadt Stralsund ein neues Kapitel in der Geschichte der Volkswerft auf.